Eine Frage der Antizipation - An der Börse wie im Kino Unsere seit einigen Wochen recht hartnäckig vorgetragene bullishe Sicht der Aktienmärkte – Kursziel 4.500 Punkte noch im März – erregt mehr und mehr Unmut bei unseren Lesern. Dies ist zumindest der Eindruck aus Gesprächen und Leser-eMails. Dabei wurde oftmals die Frage an uns gestellt, ob wir denn die vielen Optimisten um uns herum nicht wahrnehmen, welche in ihrer Überzahl doch eher für fallende Kurse sprechen? Antwort: Nun, offensichtlich sind all diese Fragesteller bearish eingestellt, sonst würden sie nicht so fragen, wie sie fragen. Insofern können wir also noch nicht zu viel Optimismus feststellen, denn wir sind ja tatsächlich von einigen Bären umgeben. Eine weitere immer wieder gestellte Frage lautet, ob wir denn die Möglichkeit einer Kopf-Schulter-Formation (= SKS), also einer oberen Umkehrformation, beim Dax oder auch bei anderen Indices nicht wahrnehmen? Antwort: Doch, tun wir! Aber erstens kann man effektiv von einer kompletten SKS erst bei einem Dax-Stand unterhalb von ca. 4.000 Punkten sprechen (sh. Chart). Und selbst wenn es dazu käme, so muß nicht zwangsläufig ein Einbruch folgen, schließlich könnte es sich dabei auch um ein „falsches“ Verkaufssignal (false break) handeln. -->bild Falsche Signale Aber warum unterstellen wir schon von vornherein, daß ein Dax unter 4.000 Punkten ein falsches Verkaufssignal abgeben wird? Erstens macht uns die Lehrbuchmäßigkeit der SKS stutzig. Sie ist zugegebenermaßen „schön“, fast schon ästhetisch, und genau das gefällt uns nicht. Je mehr eine Chartformation dem Lehrbuch entspricht, desto mehr wird sie von den Investoren wahrgenommen und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich tatsächlich der ihr von der klassischen Chartanalyse zugedachten Bestimmung, nämlich zu einem Kurseinbruch, „durchringen“ kann. Denn dann können sich die Investoren schon frühzeitig auf den Einbruch vorbereiten, indem sie z.B. ihre Aktien verkaufen, short gehen oder Puts erwerben. Allerdings kann dann der Einbruch gar nicht mehr passieren, weil die Verkäufe ja schon stattfanden, als sich die Formation noch bildete. Wer soll denn beim eigentlichen Verkaufssignal noch verkaufen und damit den Markt weiter nach unten drücken, wenn es alle Bären schon vorher taten? Eine Frage der Antizipation Zugegebenermaßen ist die vorangegangene Erläuterung sehr ausführlich gewesen. Aber wir halten es schon für wichtig, genau zu erläutern, wann charttechnische Signale vermutlich „richtig“ sind und wann „falsch“. Das Differenzierungskriterium ist der „Grad der Antizipation“. Je mehr ein zukünftiges Signal (gilt auch für Kaufsignale) von den Investoren antizipiert wird (in Worten und in Taten), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Signal gar nicht zustande kommt oder aber daß es zwar zustande kommt, sich aber schon nach kurzer Zeit als falsches Signal herausstellt (daß der Kurs also sofort nach Signalgenerierung in die andere Richtung läuft). Sie sehen, man kann über banale Kursbewegungen recht lange „philosophieren“. Übrigens spielt die Antizipation nicht nur an der Börse eine Rolle, vielmehr handelt es sich dabei um ein Prinzip, welches in allen Bereichen wichtig ist, in denen es um Erwartungshaltungen geht. Beispiel: Angenommen, Sie werden morgen ins Kino gehen. Da Sie schon jede Menge Gutes über den Film gehört und tolle Kritiken gelesen haben, sind Sie sich sicher, daß es ein wunderbares Filmerlebnis wird. Was können wir bezüglich ihres Begeisterungsgrades nach dem Film sagen? Tendenziell werden Sie eher enttäuscht als positiv überrascht aus dem Kino gehen. Logisch, denn sie haben ja bereits alles Gute antizipiert und daher haben Sie – obwohl der Film objektiv gesehen vermutlich tatsächlich gut ist – weit mehr Enttäuschungs- als Überraschungspotential aufgebaut. Anhand dieses „Exkurses ins wirkliche Leben“ sollte nun klar geworden sein, was es mit der Antizipation zukünftiger Ereignisse so auf sich hat. Sentimentanalyse Wie aber stellt man fest, was die Investoren antizipieren und was nicht? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Vielmehr gibt es hierzu eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Im neuen Smart Investor Magazin wird z.B. das Titelbild einer Börsenzeitschrift dahingehend untersucht, welches Sentiment unter den Investoren vorherrscht. Wir können uns weiterhin Put/Call-Ratios ansehen oder aber mit Freunden und Bekannten über die Märkte sprechen und aus deren Äußerungen ein Gefühl dafür entwickeln, was der „Markt“ tatsächlich erwartet, welches Sentiment also vorherrscht. Oder man hört/liest Nachrichten und beobachtet die Reaktion der Börse darauf. Diesbezüglich gab es heute morgen einen sehr lehrreichen Anschauungsunterricht. So gab unser Verkehrsminister Manfred Stolpe eine Pressekonferenz, in der er – für viele überraschend – die Kündigung des Mautvertrages mit dem Betreiberkonsortium Toll Collect bekanntgab. Zusätzlich wurde bekannt, daß der Bund erwägt, Schadenersatz in Höhe von bis zu 6,5 Mrd. Euro zu verlangen. Normalerweise würde man doch hier erwarten, daß die Aktienkurse der beiden beteiligten deutschen Unternehmen DaimlerChrysler und Deutsche Telekom und mit ihnen aufgrund ihres hohen Index-Gewichtes auch der Dax abgestraft werden. Aber weit gefehlt. Die Telekom führt mit einem Plus von 3,5 % heute die Dax-Rangliste an (DaimlerChrysler rangiert mit +0,9 % auf Rang 8). Und nun frag ich Sie: Was soll denn bitte noch passieren, daß der Dax „endlich“ in die Knie geht und seine SKS „zu Ende bringt“? Ist denn das Toll Collect-Debakel nicht ein Super-Gau für die beiden Firmen? Ist nun klar geworden, wie man Sentiment auch ermitteln kann? Offensichtlich wurde bereits Schlimmeres in den Aktienkursen eingepriced, und als es dann doch nicht so schlimm wie befürchtet kam, machten die Aktien einen Satz nach oben. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum wir nicht so richtig daran glauben wollen, daß die SKS vollendet wird bzw. daß es nach ihrer Vollendung zu einem heftigen Einbruch kommt. -->bild Zu unseren Empfehlungen Das Kaufsignal bei Altana (Adam-und-Eva-Boden; siehe SIW von letzter Woche) kam bislang noch nicht zustande, wir gehen dennoch davon aus, daß hier die Chance nach oben das Risiko nach unten deutlich überwiegt. Unser Kauflimit für Zaruma bei 0,17 Euro ging auch in der abgelaufenen Woche immer noch nicht auf (akt.: 0,19 Euro). Aufgrund der Marktenge wollen wir das Limit nicht erhöhen und lassen es daher für eine weitere Woche bestehen. Unsere Empfehlung Alstom läuft ganz beachtlich, hier werden wir in einigen Wochen zum Ausstieg raten. Überhaupt werden wir uns auf Sicht der kommenden Wochen von einigen Musterdepotwerten trennen bzw. einige Positionen abbauen. Wir hatten ja an dieser Stelle immer wieder angedeutet, daß wir mit einem finalen Anstieg rechnen, in den hinein wir Liquidität im Depot aufbauen wollen. Im kommenden Smart Investor Magazin (Erscheinungstermin: kommender Samstag oder Montag), für das Sie unter http://www.smartinvestor.de ein Probe-Abo anfordern können, werden wir unsere Ausstiegsstrategie dezidiert darlegen, sowohl was die geplanten Verkaufslimits wie auch die geplanten Verkaufsstückzahlen anbelangt. Zudem erläutern wir dort explizit, was wir auf Sicht der kommenden Wochen, bis zum Jahresende und darüber hinaus für die Aktienbörsen und die Wirtschaft erwarten. Fazit Natürlich können wir uns täuschen. Der Dax könnte unter die 4.000-Punkte-Marke fallen, damit seine SKS komplettieren, und anschließend zusammenklappen. Er könnte. Es kann aber auch sein, daß er genau das Gegenteil davon tut, um den vielen Kurzfrist-Bären, die es derzeit vielleicht noch gibt, eins auszuwischen. Lassen wir uns überraschen. Vermutlich aber werden wir unsere Aktienbestände im Musterdepot erst bei höheren Kursen reduzieren (am liebsten oberhalb von 4.400 Dax-Punkten). Ralf Flierl Smart Investor Magazin