Mir ist auf der Startseite von Goldseiten.de ein Artikel von Herrn Klaus Singer aufgefallen (Titel: Wieviel heisse Luft muss noch raus? ), in dem der Autor ueber den weltweiten Derivatemarkt spricht. Folgende Passage sei hier zitiert: "Um welche Größenordnung der Exzesse seit 2000/2001 handelt es sich? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Auch hier geht es wieder um den "deleveraging process". Nähern wir uns von "oben" her an: Das Volumen der weltweit ausstehenden Derivate hat sich innerhalb der zurückliegenden sechs Jahre auf 500 Bill. Dollar versechsfacht. Es macht das Zehnfache des globalen BIPs und das fünffache der Bond- und Aktienmärkte zusammen aus. Eine Rezession mit einem negativen Wachstum von nur einem Prozent würde "verlangen", dass das Derivate-Volumen um 5 Bill. Dollar schrumpfen muss. Legt man die Annahme zugrunde, dass die Märkte für Aktien und Bonds im Zuge einer Rezession zusammen um zehn Prozent kontrahieren, wären schon 50 Bill. Dollar zu veranschlagen. Dabei ist noch unterstellt, dass die genannten "Hebel" so bestehen bleiben können, was unrealistisch ist. Eine Reduktion der Hebel um jeweils nur 10 Prozent würde schon einen Rahmen zwischen 54,5 und 95 Bill. Dollar an "heißer Buchwert-Luft" aufspannen, die sich im Wirtschaftssystem unserer Tage angesammelt hat. Natürlich ist die Herleitung hier sehr spekulativ - ich möchte auch nur die Größenordnungen zeigen und damit ein Gefühl für die noch ausstehenden Risiken und Turbulenzen entwickeln."[/i] Herr Singer spricht vom "Volumen der weltweit ausstehenden Derivate" und beziffert es auf 500 billionen USD. Zur Vermeidung von Missverstaendnissen ist es wichtig, dass man weiss wie dieses Volumen gemessen wird und was es konkret bedeutet. Nehmen wir einen Oil-Swap als Beispiel. Oil-Swaps sind ein spezieller Fall von Swaps und haengen in ihren cash flow Zahlungen vom Preis eines bestimmten Oil Indexes oder Settlement Preises eines Oil Futures ab. Nehmen wir einen Oil-Swap auf den Brent Crude Future gemaess ICE (=Intercontinental Exchange... ehemals IPE). Solche Swaps werden ausserboerslich gehandelt und sehen vor, dass der Kaeufer am Laufzeitende einen fixen und bekannten Geldbetrag an den Verkaeufer zahlt (den Swap-Level), waehrend der Verkaeufer am Laufzeitende den (bisher noch unbekannten) settlement Preis des Brent Crude Futures an den Kaeufer zahlt. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach. Nehmen wir an, der Brent Future notiert bei 70$ und settlet (laeuft aus) in 4 Wochen. Der Swap wird heute bei 70$ gehandelt und bis zum Kontraktende (in ebenfalls 4 Wochen) passiert erstmal nix. Lufthansa hat den Swap gekauft, um sich per Proxi gegen steigende Cerosine Preise abzusichern, Shell hat den Swap verkauft, um sich gegen fallende Oil Preise abzusichern. Die Groessenordnung des Geschaefts lag bei sagen wir 5mio barrel. In 4 Wochen settlet der Brent Future - nehmen wir es an - bei 75$. Lufthansa hat den swap zu 70$ gekauft und zahlt folglich 70$ * 5mio barrel = 350mio EUR an Shell (dieser cash flow war vorher bekannt). Shell hat den Swap verkauft und zahlt den settlement Preis - der vorher unbekannt war - an Lufthansa. Hier also 75$ * 5mio barrel = 375mio EUR. Am selben Tag zahlen die beiden sich also gegenseitig Geld aus. In der Praxis laufen solche Swapgeschaefte auf standardisierten Vertragsbasen (ISDA) und es wird nur die cash-flow Differenz ausgezahlt. Lufthansa zahlt also gar nichts und erhaelt von Shell 25mio $ ausgezahlt. Was ist das "Volumen" (=notional) dieses Swaps? Es betraget 70$ * 5mio barrel = 350mio EUR. Die Medien wuerden soein Geschaeft als boesartiges, kompliziertes Finanzprodukt verteufeln und in ihm Potential fuer einen Zusammenbruch unseres Finanzsystems vermuten. So bisher geschehen in diversen Deutschen Finanzzeitungen. Warum hat Lufthansa diesen Swap aber gekauft? Weil ein junger Draufgaenger im Namen der Firma auf den Oil Preis zocken will? Sicherlich nicht. Lufthansa nutzt solche Swap Geschaefte, genauso wie auch Shell, um das Risiko aus Preisschwankungen im Oil zu hedgen, es also zu eleminieren. Nehmen wir an, die zusaetzlichen Kosten fuer Cerosine steigten im historischen Mittel um 25mio $ wenn Brent Crude um 5$ steigt (Brent und Cerosine korrelieren stark positiv miteinander). Lufthansa haette im obigen Szenario also 25mio $ "Verlust" im operativen Geschaeft erlitten, dafuer aber 25mio $ "Gewinn" aus dem Swap Geschaeft erzielt. Netto ist das Risko - egal, wie oil sich entwickelt haette - also groesstenteils eleminiert. Merke: Es bleibt credit risk und correlation risk - aber das Gesamtrisiko ist deutlich reduziert. Und an dieser Stelle eine Anmerkung zum credit risk (dem Risiko, dass der Vertragspartner Shell ausfaellt). Moechte Lufthansa auch dieses Risiko reduzieren, so kaufen sie einen z.Z. so verteufelten Credit Default Swap (CDS) mit 4 Wochen Restlaufzeit von bsp. der Allianz. Dafuer ist eine geringe Praeme an die Allianz faellig und im unwahrscheinlichen Fall dass Shell waehrend der CDS laufzeit insolvent geht bzw. ein genau definiertes Kreditereignis eingetreten ist, zahlt die Allianz einen festen Betrag an Lufthansa. So hat Lufthansa das credit risk also auf den extrem unwahrscheinlichen Fall reduziert, dass sowohl (!) Shell als auch (!) Allianz innerhalb der naechsten 4 Wochen pleite gehen. Dieses CDS Geschaeft waere ein reiner Transfer (!) von Risiko ohne das neues Risiko entstanden waere. Zurueck zum Oil-Swap. Die beispielhaften 350mio EUR notional sind in den 500 billionen USD von Herrn Singer enthalten. Und ein sehr grosser Teil der weltweit offenen Derivate-Positionen haben einen aehnlichen Charakter. Wenn Lufthansa und Shell sich eine Woche spaeter einigen wuerden, ihren hedge zum neuen Marktpreis wieder aufzuloesen (passiert selten mit dem selben Geschaeftspartner), dann wuerde Lufthansa den Swap an Shell zu bsp. 72$ zurueckverkaufen, haette 10mio EUR Gewinn erzielt und die 350mio EUR notional wuerden sich in Luft aufloesen. Der Swap waere weg. Ganz harmlos fuer die Wirtschaft und ohne dass es irgendjemand ueberhaupt mitbekaeme. Das vorab. Derivate sind - nur weil die Masse sich damit nicht auskennt - im allgemeinen nicht sonderlich komplex und dienen vordergruendig der Uebertragung von existierenden (!) Risiken von einem Marktteilnehmer auf den anderen. Nur wenn zwei Spekulanten untereinander handeln, wird neues Risiko aus dem Nichts erschaffen - es verfaellt aber ebenso schnell wieder in sich zusammen. Wenn ein Spekulant mit einem Hedger handelt oder zwei hedger untereinander, dann wird KEIN Risiko neu erschaffen. Risiko wird in dem Fall nur transferiert - und das vergisst die Presse leider oft. Zurueck zum Artikel von Herrn Singer. Er schreibt, dass eine "[i]Rezession mit einem negativen Wachstum von nur einem Prozent "verlangen" wuerde, dass das Derivate-Volumen um 5 Bill. Dollar schrumpfen muesse[/i]". Diese Schlussfolgerung verstehe wer will, ich tue es nicht. Herr Singer unterstellt hier ironischerweise, dass Derivate ausschliesslich von hedgern gehandelt werden und dass jedes Wirtschaftssubjekt das zum BIP beitraegt saemtliche operative Risiken hedged. Denn nur in diesem speziellen Fall wuerde ein Rueckgang des BIP bedeuten, dass die operativen Risiken der einzelnen Wirtschaftssubjekte abgenommen haetten und entsprechend hedge-Positionen abgebaut werden koennten. In einer solchen Idealwelt wuerden Derivate, wie wir eben gelernt haben, aber gar keine neuen Risiken erschaffen, sondern diese nur transferieren. In der realen Welt gibt es aber immer auch Spekulanten und diese reduzieren ihre Positionen ganz sicher nicht zwangslaeufig deswegen, weil das BIP um 1% sinkt. Die Schlussfolgerung von Herrn Singer ist schlicht falsch und ich wuerde mich freuen, wenn er sich hierzu aeussern koennte. Es waere schoen, wenn mehr Autoren - vor allem auch solche einschlaegiger Finanzzeitungen - sich besser mit der Materie ueber die sie berichten auskaennten, statt mit Halbwissen ihr Umfeld zu verdummen. Und hiermit beziehe ich mich ausdruecklich nicht auf Herrn Singer, sondern vordergruendig auf FAZ, Welt, Spiegel, etc. Redakteure, die sich besonders in den letzten Wochen zu weit von ihrer Kompetenz entfernt haben... mfG