Bundesregierung trifft Vorbereitungen für wirtschaftlichen Notstand -
Notstandsgesetze. Abseits der Öffentlichkeit trat am 12. August 2004 eine Verordnung in Kraft, die staatliche Maßnahmen für den Ernstfall vorsieht, wenn im Rahmen der Marktmechanismen die Güterversorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet ist.
Merkwürdige Dinge geschehen in diesen Tagen in Berlin. Ohne Debatte im Bundestag und bislang ohne die geringste Anteilnahme der etablierten Medien erließ die Bundesregierung am 12. August 2004 eine "Verordnung über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft (Wirtschaftssicherstellungsverordnung)", welche den wirtschaftlichen Teil der Notstandsgesetze von 1968, das "Wirtschaftssicherstellungsgesetz", erweitert und präzisiert. Die Verordnung wurde von Kanzler Schröder und Bundeswirtschaftsminister Clement unterschrieben und sodann am 17. August im Bundesgesetzblatt (Jahrgang 2004 Teil I Nr. 43, Internetadresse:
Notstandsverordnung (neu)
veröffentlicht. Dort heißt es am Ende lapidar: "Der Bundesrat hat zugestimmt".
Eine Anfrage im Wirtschafts- und Justizministerium förderte zunächst großes Erstaunen hervor ("noch nie davon gehört"). Aber nach einigem Hin und Her bekannten die ministerialen Mitarbeiter, daß es die neue Verordnung tatsächlich gibt. In den Internetforen, etwa der ARD-Tagesschau, wird derweil schon heftig diskutiert, ob die wirtschaftliche Notstandsverordnung zum jetzigen Zeitpunkt deshalb einer großen Revision unterzogen wurden, weil man kriegerische Auseinandersetzungen erwartet, der soziale Frieden in Deutschland gefährdet ist oder weil "das internationale Geldsystem" vor dem Zusammenbruch steht.
Dabei betont doch der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem am 15. September vorgelegten "Bericht zur globalen Finanzstabilität 2004", die Finanzmärkte befänden sich zur Zeit in allerbester Verfassung und es sei überhaupt nicht erkennbar, "von welcher Seite kurzfristig systemische Bedrohungen ihren Ausgang nehmen könnten". Es ist also eigentlich alles in bester Ordnung. Warum also dann ein neues Notstandsgesetz?
Wirtschaftssicherstellungsverordnung
Wie das bisherige "Wirtschaftssicherstellungsgesetz" von 1968, so erlaubt auch die neue "Wirtschaftssicherstellungsverordnung" (WiSiV 2004) die Außerkraftsetzung von Marktmechanismen im Verteidigungsfall und "wenn eine Gefährdung der Versorgung durch marktgerechte Maßnahmen nicht, nicht rechtzeitig oder nur mit unverhältnismäßigen Mitteln zu beheben oder zu verhindern ist". Unter solchen Bedingungen werden die üblichen Marktmechanismen durch Notstandsbestimmungen ersetzt, welche "die Bearbeitung, die Verarbeitung, die Zuteilung, die Lieferung, den Bezug und die Verwendung" von "Waren der gewerblichen Wirtschaft" und von "bestimmten Erzeugnissen der Ernährungs- und Landwirtschaft sowie der Forst- und Holzwirtschaft" regeln.
Neben den Fertigprodukten dieser Sektoren gelten die Bestimmungen auch für die "Produktionsmittel der gewerblichen Wirtschaft", also unter anderem den Maschinenpark und die Rohstoffvorräte der Unternehmen. Schließlich sind auch der Bausektor und technische Dienstleistungen betroffen, das heißt "Werkleistungen von Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft zu Instandsetzungen aller Art sowie zur Instandhaltung, Herstellung und Veränderung von Bauwerken und technischen Anlagen".
Der Energiesektor ist nur deswegen dem Anwendungsbereich des WiSiV 2004 entzogen, weil es für diesen bereits eigene Notstandsregelungen gibt: die "Mineralölbewirtschaftungsverordnung", die "Elektrizitätslastverteilungsverordnung" und die "Gaslastverteilungsverordnung".
Neu in der WiSiV 2004 ist die Einführung einer Reihe von legalen Instrumenten, mit denen die Regierung im Notstandsfall in den Wirtschaftsprozeß eingreifen kann. Sie hätte all dies im Prinzip auch nach dem Gesetz von 1968 machen können. Aber nun wird erstmals genau beschrieben und festgelegt, wie das im einzelnen aussehen wird. Die neuen Instrumente heißen "Vorrangerklärung", "Verpflichtungsbescheid" und "Bezugsberechtigung".
Vorrangerklärung
Mit "Vorrangerklärungen" werden einzelne Unternehmen angewiesen, ihre Warenlieferungen oder Werkleistungen vorrangig auf vorgegebene Ziele auszurichten. Wenn also ein Unternehmen Aufträge von unterschiedlichen Kunden und für unterschiedliche Produkte vorliegen hat, so wird es durch diese Erklärungen gezwungen, bestimmte Aufträge als erstes zu erledigen und alle übrigen Aufträge zurückzustellen. Ermächtigungen zur Abgabe von "Vorrangerklärungen" werden von einer nicht näher bezeichneten "zuständigen Behörde" erteilt.
Es versteht sich, daß die Verabschiedung der WiSiV 2004 im August dieses Jahres überhaupt keinen Sinn macht, wenn nicht zugleich innerhalb der Ministerialbürokratie die Vorbereitungen für die Schaffung einer derartigen Behörde angelaufen sind oder sogar bereits abgeschlossen wurden. Schließlich liegt es in der Natur von Notstandsverordnungen, daß der Fall der Fälle jederzeit ohne Vorwarnung eintreten kann und die Bestimmungen sodann unverzüglich in Kraft treten müssen. Die "zuständige Behörde" erteilt ihre "Vorrangerklärungen" auf Antrag bestimmter Institutionen. Hierzu zählen zunächst "der Bund", sodann "die Länder, die Gemeindeverbände, die Gemeinden sowie die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts." Auch Personen und private Unternehmen, die mit "öffentlichen Ver- oder Entsorgungsaufgaben", mit "lebens- oder verteidigungswichtigen Aufgaben" oder mit "Aufgaben zur Durchführung des Energiesicherungsgesetzes" betraut sind, können die Abgabe von "Vorrangerklärungen" beantragen.
Verpflichtungsbescheid
Aber das ist noch nicht alles. Denn es ist eine Art Verkettung der "Vorrangerklärungen" vorgesehen. Diese dürfen nämlich auch von jedem Unternehmen abgegeben werden, welches "selbst eine Vorrangerklärung empfangen hat und nur auf diese Weise die von ihm geschuldete Leistung vorrangig erbringen kann."
Nun kommen die "Verpflichtungsbescheide" ins Spiel. Im Unterschied zu den "Vorrangerklärungen", die prinzipiell von einer großen Zahl von Institutionen und Unternehmen beantragt und abgegeben werden können, tritt hier die "zuständige Behörde" unmittelbar als Akteur auf. Sie kann damit Unternehmen direkt anweisen, "Waren zu liefern oder zu beziehen", "Waren zu gewinnen, herzustellen, zu bearbeiten, zu verarbeiten oder sonst innerbetrieblich zu verwenden", "Werkleistungen zu erbringen" und "ihre Produktionsmittel instandzuhalten, herzustellen, zu verbringen, zu verwenden oder abzugeben."
Bezugsberechtigung
Schließlich wird mit dem Instrument der "Bezugsberechtigungen", d.h. der Erteilung von "Bezugsscheinen", die "Warenbewirtschaftung" im Notstandsfall geregelt. Die WiSiV 2004 sagt hierzu: "Schränkt das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit durch Verordnung die Lieferung, den Bezug oder die Verwendung von Waren zeitlich oder mengenmäßig ein (Warenbewirtschaftung), so darf der Unternehmer solche Waren nur liefern, sie beziehen oder verwenden", sofern dies zur Erfüllung einer "Vorrangerklärung" oder eines "Verpflichtungsbescheides" erforderlich ist, eine spezielle Genehmigung des Ministeriums vorliegt, oder "auf begründeten Antrag" von der zuständigen Behörde "Bezugscheine" erteilt wurden. Letztere "dürfen nicht übertragen werden", sind also an bestimmte Unternehmen und deren Leistungen gebunden.
Folgerungen
Wer sich näher mit den Bestimmungen der WiSiV 2004 auseinandersetzt, der muß sich schon schwer wundern. Die gleichen Ministerien, die nach außen hin beständig beschwören, daß a) keinerlei systemische Gefahren drohen und b) die Gesetze des Marktes unantastbar sind, arbeiten insgeheim an detaillierten Plänen für den Fall eines flächendeckenden Zusammenbruchs der Marktordnung.
Noch beklemmender wird die Angelegenheit durch das bislang vollständige Schweigen sämtlicher führender Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine.
Eine Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Die Bundesregierung ist sehr viel mehr über die Aufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems besorgt, als sie öffentlich zugibt. Innerhalb der Bürokratien wird man dies vermutlich mit der Gefahr terroristischer Anschläge begründen und von den Beteiligten Stillschweigen verlangen. Tatsächlich dürfte sich hinter der neuen Verordnung aber die berechtigte Sorge verbergen, daß sich das globale Finanzsystem in einem unhaltbaren Zustand befindet und ein jederzeit möglicher Zusammenbruch die gesamte Realwirtschaft ins Chaos treiben könnte.
Zum anderen bedeutet die Durchsetzung der WiSiV 2004 eine Bestätigung der Bemühungen seitens LaRouche und der Bürgerrechtsbewegung Solidarität, konkrete Pläne für einen Wiederaufbau unserer produktiven Kapazitäten unter Bedingungen einer Systemkrise auszuarbeiten. Auch der Wiederaufbau nach dem Krieg konnte nur deshalb zu einem "Wirtschaftswunder" führen, weil gerade in den ersten zehn Jahren eine äußerst dirigistische Wirtschaftspolitik vorherrschte. In den verschiedenen Sektoren wurde die Bewirtschaftung, etwa bei Wohnungen, erst dann schrittweise aufgehoben, nachdem die dirigistische Kredit- und Investitionspolitik bereits Erfolge zeitigte.
In diesem Zusammenhang gibt es durchaus eine Parallele zwischen den "Vorrangerklärungen" der WiSiV 2004 und den Entscheidungen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), welche ihre Investitionskredite gezielt an solche ausgewählten Unternehmen vergab, deren Produkte für den Wiederaufbau als prioritär eingestuft wurden.
Lothar Komp
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