Während Ihrer Interviews und Ihrer Feldarbeit - was hat sie da am meisten
emotional berührt?
Irina Vellay: Es betrifft einen jede Geschichte, denn die Menschen in diesen Verhältnissen leben immer
"an der Grenze" oder sind schon über sie hinaus gedrängt worden und die Art und Weise, in der sie
sich fügen oder wehren, Lösungen suchen, scheitern oder "ihre Ecke finden", berührt zutiefst. Dies gilt
in anderer Form übrigens auch für manche Menschen in den "betreuenden" Institutionen, die ihr
Verständnis von ihrem Job, der Verwaltung des Elends und der Konfrontation mit ihm, im Innersten
selbst suchen müssen.
Das klingt weder danach, als erhielten, wie die Bundesagentur für Arbeit einst kundtat, Betroffene eine
"neue Perspektive", noch als wäre der "dritte Arbeitsmarkt" etwas, das mit Arbeit zu tun hätte,
zumindest, insofern man diese als menschenwürdige versteht?
Irina Vellay: Sie haben mit Ihrer Wahrnehmung völlig recht. Die Menschen geraten in persönliche
unmittelbare Abhängigkeit - und das nicht selten auf Dauer. Jedenfalls tritt diese Seite der sozialen
Existenz wieder deutlicher hervor. Die Frage ist, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht. Die
Einführung von Zwangsverhältnissen ist in jedem Fall abzulehnen - jede Entwicklung muss sich daran
messen lassen, ob daraus ein Zugewinn an Selbstbestimmung und Entfaltungsmöglichkeiten für die
Einzelnen entsteht.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich Ihrer Meinung nach daraus ziehen, dass die vorliegenden
Ergebnisse so wenig mit den eigentlich für diese Maßnahmen proklamierten Zielstellungen – "neue
Chancen", in Arbeit bringen etc. - in Einklang zu bringen sind?
Irina Vellay: Wie bereits gesagt, es geht den Herrschenden, vertreten durch die bürgerlichen
politischen Parteien, um einen anderen als den proklamierten Anwendungsbereich. Insofern sind auch
keine der angekündigten Erfolge am 1. Arbeitsmarkt zu erwarten. Hier zeichnen sich Strategien ab, wie
man in Zukunft mit den "Überflüssigen" in der Gesellschaft umgehen will.
Wie meinen Sie das?
Irina Vellay: Ein wachsender Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland bleibt auch in
Zukunft dauerhaft aus existenzsichernder Erwerbsarbeit ausgegrenzt, weil ihre Arbeitskraft nicht
profitträchtig genug verwertet werden kann und weil sie für das geforderte Leistungsniveau zu alt, zu
krank oder einfach nicht so wie angefordert ausgebildet sind. Kurz gesagt, sie sind für die
Kapitalverwertung "überflüssig" und schmälern durch die anfallenden Unterhaltungskosten auch noch
die durchschnittliche Profitrate des Kapitals.
Hier sinnt man auf Abhilfe und ist auf die Idee gekommen, dass die "Restproduktivität"
dieser Menschen hinreichen könnte, einen Unterhalt am Existenzminimum annähernd zu
gewährleisten. Bislang steht der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für
Transferleistungsempfänger allerdings noch das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes entgegen.
Sobald jedoch der EU-Vertrag in bisher bekannter Form Gültigkeit erlangt, werden diese Regelungen
aufgehoben, da dieser Vertrag keine vergleichbaren Regelungen enthält.