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Fünf Tage Gnadenfrist
Der russische Erdölkonzern Yukos muss 2,9 Milliarden Euro Steuern nachzahlen - binnen fünf Tagen. Nun steht das Unternehmen vor dem Ausverkauf
von Jens Hartmann
Ich bin es leid", sagte Bruce K. Misamore. "Ich schmeiße die Brocken hin." Es war ein Mittwochabend, im Yukos-Tower am Moskauer Paweletzker Bahnhof brannte noch Licht, und der Mann aus Findlay im US-Bundesstaat Ohio, seit zwei Jahren Herr über die Geldströme des größten russischen Erdölkonzerns Yukos, wollte nicht mehr. Der Aufsichtsrat hatte gerade entschieden, Vorstandschef Simon Kukes den Rücktritt nahe zu legen. Misamore, ein pausbäckiger Amerikaner, wollte gleich mitgehen. "Es fielen Worte wie Verantwortung und Respekt, Bruce wurde noch einmal umgestimmt", sagt einer, der der Yukos-Führung nahe steht. Auf dieser Sitzung sei "viel Schweiß geflossen".
Eine Woche später saß Misamore in seinem mit Holz vertäfelten Büro und verfluchte womöglich den Moment, da er sich breitschlagen ließ. Wie viel Bargeld hat Yukos, mit seinen 460 Töchtern und Enkeln so weit verzweigt wie der Ahnenbaum eines Adelsgeschlechts, auf seinen Konten liegen? Welche Summen können noch losgeeist werden? Was sagen die Eigentümer? Sind die Gläubiger zu beruhigen? Das sind die Gretchenfragen für Yukos.
99,3 Mrd. Rubel oder 2,9 Mrd. Euro schuldet der Ölgigant mit seinen 105 000 Mitarbeitern dem russischen Staat. Am vergangenen Dienstag hatte das Moskauer Arbitragegericht letztinstanzlich entschieden, dass Yukos allein für das Jahr 2000 diese Milliardensumme zurückzahlen muss. Bescheide für 2001 bis 2003 in ähnlicher Höhe dürften folgen. Die Gesamtschuld würde sich dann auf rund zehn Mrd. Euro belaufen - bei einem Bargeldbestand von rund einer Mrd. Euro. An der Moskauer Börse ist Yukos gegenwärtig 16 Mrd. Euro wert.
Das Steuerverfahren wird weithin als politisch motiviert eingestuft. Schließlich ist der ehemalige Yukos-Vorstandschef und Noch-Hauptaktionär Michail Chodorkowskij - er sitzt seit acht Monaten in Untersuchungshaft - ein Erzfeind von Präsident Wladimir Putin. "Die russische Regierung kann keinerlei Interesse am Bankrott eines so großen Konzerns wie Yukos zu haben." Putins Worte vor wenigen Tagen waren Balsam für die Börsianer. Ob sie Gültigkeit haben? Und wie geht es weiter mit Yukos? Diskutiert und durchgespielt werden auch in der Yukos-Zentrale mehrere mögliche Szenarien:
1. Eigentümerwechsel. Yukos-Vize Jurij Bejlin hat in einem Brief an Regierungschef Michail Fradkow einen Deal angeboten. Der Erhalt des Konzerns gegen den Austausch der Eigentümer. Gegenwärtig hält die Menatep Group, eine Investmentgesellschaft, die die Vermögen von Chodorkowskij und fünf seiner Mit-Milliardäre verwaltet, rund 60 Prozent an Yukos. Mit einer Zusatzemission könnte der Anteil deutlich unter die 50-Prozent-Marke fallen. Die Minderheitsaktionäre - Ausländer halten an Yukos etwa 20 Prozent - dürften aufschreien. Ihre Anteile würden entwertet. Oligarch Chodorkowskij wäre sein Imperium los. Im Kreml soll man dieser Version nicht abgeneigt sein. Chodorkowskij, dem bis zu zehn Jahre Gefängnis drohen, würde jedoch wohl gern seine Freilassung an den Deal knüpfen wollen.
2. Ausverkauf. Sibneft, Gazprom, Surgutneftegaz, Rosneft, Lukoil - die Öl- und Gasgiganten stehen schon Schlange und warten auf die erste Auktion, die das Steuerministerium in wenigen Wochen ausrichten könnte. Analyst Steven Dashevsky glaubt, dass zuerst ein Aktienpaket von 35 Prozent des Ölkonzerns Sibneft unter den Hammer kommt. Yukos hält diesen Aktienanteil noch aus einer 2003 erst vollzogenen, dann gescheiterten Fusion der beiden Ölkonzerne. Es ist totes Kapital.
Möglicher Käufer könnte Roman Abramowitsch, Oligarch und Fußballfan, sein. Er hält ohnehin die Mehrheit an Sibneft, über seine Investmentgesellschaft Millhouse Capital. Yukos könnte noch einige Erdgasgesellschaften feilbieten. Gerade diese Aktiva würden dem Monopolisten Gazprom gut zu Gesicht stehen. Die russischen Öl- und Gasriesen wollen jedoch mehr: die sibirischen Förderstätten, das Herz von Yukos.
3. Oligarch gegen Oligarch. Multimilliardär Roman Abramowitsch könnte zum neuen Herrn über Yukos werden. Er hält gegenwärtig schon eine Sperrminorität an Yukos, könnte Chodorkowskij aus der finanziellen Klemme helfen - und ihn damit zum Juniorpartner degradieren.
Das Kapital dafür hätte der Ölbaron, aber auch die politische Rückendeckung? Abramowitsch hält sich verdächtig oft im Ausland auf, er lebt in London, hat sich in den letzten Monaten von Geschäftbeteiligungen in Russland getrennt. Was für dieses Szenario spricht: Abramowitsch hatte im vergangenen Jahr, als er mit Chodorkowskij über die Fusion der Nummer eins (Yukos) mit der Nummer fünf (Sibneft) verhandelte, genau dieses vorgeschlagen, die feindliche Übernahme Goliaths durch David.
4. Der Staat macht's. Yukos, das über die drittgrößten Erdölreserven weltweit verfügt und jede fünfte Tonne russischen Öls fördert, wird zum Staatskonzern. Putin hätte sein Ziel erreicht, den Einfluss des Staates auf den Ölsektor zu erhöhen. Er hätte Zugriff auf die Finanzströme.
Yukos könnte unter die Fittiche von Gazprom kommen. Gazprom-Chef Alexej Miller hat ohnehin angekündigt, bis Ende des Jahres einen Ölkonzern aus der Taufe zu heben. Die Nationalisierung von Yukos wäre ein großer Schritt in Richtung Staatswirtschaft.
5. Yukos bleibt Yukos. Der Erdölkonzern einigt sich mit dem Fiskus über eine Restrukturierung der Steuerschuld. Der Konzern bleibt erhalten. Ob jedoch der Aufwand, den der Kreml in diesen Feldzug steckte, ein solches Ergebnis rechtfertigen würde?
Das Endspiel ist in vollem Gange. Binnen fünf Tagen muss Yukos die Steuerschuld begleichen. Wenn bis dahin nicht das Geld auf den Konten des Steuerministeriums eingegangen ist, können die Gerichtsvollzieher ausschwärmen und die Pfändung der Bankkonten erwirken. Und wenn die Summe nicht ausreichen sollte, könnte eines der oben genannten Szenarien umgesetzt werden. Es hat bislang nicht den Anschein, dass der Kreml ein fertig geschriebenes Drehbuch hat. "Irgendjemand in der Regierung muss langsam entscheiden, was man will: den Bankrott oder den Erhalt des Konzerns", sagt Stephen O'Sullivan, Analyst bei UFG in Moskau.
Das Endspiel ist nichts für schwache Nerven. So stehen bei Yukos neben dem Fiskus auch noch andere Gläubiger in der Schlange. Da bekommt noch ein internationales Bankenkonsortium eine Mrd. Dollar. Da könnte Mehrheitseigner Menatep Group, gleichzeitig Hauptgläubiger, den Konzern für zahlungsunfähig erklären lassen und damit das Insolvenzverfahren lostreten. Oder, umgekehrt, die Steuerschuld aus eigenen Mitteln tilgen, um wieder Zugriff auf die seit April per Gerichtsbeschluss eingefrorenen Aktiva zu bekommen.
Für die Rating-Agentur Standard & Poor's, die den hochprofitablen Ölkonzern mit CCC und Ausblick "negativ" eingestuft hat, steht fest, dass der Fall Yukos, was Putin bestreitet, ein politisches Verfahren ist. "Die Zukunft von Yukos hängt größtenteils davon ab, welche Aktionen die verschiedenen Flügel der Regierung unternehmen werden. Yukos steht einer unberechenbaren Justiz und einer widrigen politischen Umgebung gegenüber."
Bruce K. Misamore, der Finanzvorstand wider Willen, kam an diesem "Tag danach" im Rausch der Zahlenkolonnen nicht dazu, die lange angekündigten Finanzergebnisse für 2003 vorzulegen. "Dafür war keine Zeit", sagte Misamore, "ich muss erst einmal verstehen, wie sich der Gerichtsentscheid auf unsere Konten auswirkt."
Artikel erschienen am 1. Juli 2004
http://www.welt.de/data/2004/07/01/298910.html