Entmannte Rhetorik und Imperialismus: Bleibt von der alten EU etwas
übrig?
Denis Dubrowin, Chef des TASS-Büros in Brüssel, über
Europas Umformatierung mit militaristischen Tendenzen
Die Ernennung der neuen EU-Kommission hat die Ziellinie erreicht.
Im November werden die künftigen EU-Kommissare vom Europäischen
Parlament angehört und bestätigt, und ab dem 1. Dezember werden sie
unter der Leitung von Ursula von der Leyen die europäische Politik
bestimmen. Wohin bewegt sich Europa dann?
Groß angelegte Aufgaben
Die vielen Besonderheiten bei der Bildung der neuen
Exekutivstruktur der EU lassen mit großer Zuversicht zu dem Schluss
kommen, dass wir Zeugen eines schleichenden Putsches werden.
Alle Merkwürdigkeiten der künftigen EU-Kommission, wie das
Verschwinden erfahrener Veteranen, das Auftauchen vieler neuer Leute
ohne nennenswertes Gewicht und ohne politische Verbindungen, das
Durcheinander von Befugnissen, die auf verschiedene EU-Kommissare mit
vielen sich überschneidenden Zuständigkeitsbereichen und mit einer
sehr vagen Aufgabenbeschreibung verteilt werden, haben eine recht
einfache Erklärung: Die neue Struktur soll ihrer Leiterin ein
Maximum an Macht sichern, während sie ihre Handlungsfreiheit minimal
einschränkt.
Die ehemals bescheidene Wirtschaftsregulierungsbehörde einer
internationalen Organisation wird in ein Direktorium umgewandelt, in
eine nicht gewählte supranationale Regierungsstruktur, die
offensichtlich die Absicht hat, den nationalen Regierungen der
EU-Länder weiterhin intensiv Macht zu entziehen. Von der Leyen hat
damit bereits in ihrer ersten Amtszeit begonnen, indem sie die
COVID-19-Pandemie und den Ukraine-Konflikt nutzte, wobei sie effektiv
mit den Ängsten und der Trägheit der Europäer spielte.
Darüber hinaus wird diese Struktur eindeutig geschaffen, um
einige sehr umfangreiche Aufgaben zu erfüllen, die im Rahmen der
bestehenden europäischen Institutionen, Vereinbarungen und Regeln
nicht erfüllt werden können.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Aufgabe der neuen
europäischen Regierung darin bestehen wird, den gesamten
europäischen Raum neu zu gestalten. Anstelle der verstorbenen EU
will die globalistische europäische Elite, deren Gesicht von der
Leyen ist, eine neue militarisierte und streng kontrollierte Struktur
nach imperialem Vorbild schaffen. Alles, was von der Vergangenheit
übrig bleiben wird, ist die entmannte Rhetorik von Freiheit und
Demokratie.
Die Rolle Russlands
Es besteht kein Zweifel, dass Russland in diesem Szenario von
Brüssel nicht nur als Gegner, sondern als direkter Feind betrachtet
wird. Und zwar als dialektischer Feind, dessen Existenz als
Rechtfertigung oder Entschuldigung für die Aktionen des neuen
Europas dienen wird. Vor allem für die Wiederbelebung des
europäischen Militarismus. Und natürlich, um alle Fehler der
Regierungen der EU-Staaten auf seine „Intrigen“ abzuschieben. Das
geschieht ja bereits…
Ich werde versuchen zu beschreiben, wie das neue europäische
Projekt, das in Brüssel geboren wird, aussieht. Und auch die
Probleme, die ihm im Wege stehen.
Europa schneller und einfacher machen
Jeder der 26 offenen Briefe zur Beschreibung der Befugnisse, die
von der Leyen an die künftigen EU-Kommissare geschickt hat, enthält
die These, dass die neue EU-Kommission Europa „schneller und
einfacher“ machen will. Dem widerspricht das chaotische Schema der
künftigen EU-Kommission nur auf den ersten Blick.
In Wirklichkeit sieht von der Leyen das Hauptproblem des modernen
Europas in der Zersplitterung der Kompetenzen, den „übermäßigen“
Befugnissen der nationalen Regierungen und dem „Mangel“ an
Kompetenzen in Brüssel. Das will sie beheben.
Die Brüsseler Institutionen sind ursprünglich nach
technokratischen Prinzipien aufgebaut worden, ohne Anzeichen von
Demokratie. Und vor 30 Jahren gab es dafür einen Grund, denn eine
technische Struktur mit begrenzten Befugnissen braucht keine Wahlen.
Jetzt will man sie zu einem echten Entscheidungszentrum machen,
indem man den nationalen Hauptstädten „überflüssige“
Funktionen wegnimmt. Die Politik der EU-Staaten soll zu einer Bühne
für Wahlkämpfe auf lokaler Ebene werden, auf der die europäischen
Wähler nach Lust und Laune ihre Unzufriedenheit mit der Situation in
Europa zum Ausdruck bringen und ihre Politiker dafür „bestrafen“
können.
Die drei Berichte
Für den bevorstehenden europäischen Putsch, oder die Neuordnung
Europas, hat von der Leyen bereits eine ideologische Basis
geschaffen. Das sind die sogenannten drei Berichte. Sie wurden alle
auf persönlichen Wunsch der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula
von der Leyen, von ehemaligen europäischen Spitzenfunktionären
erstellt und sind der künftigen europäischen Metamorphose gewidmet.
Das sind die Berichte des ehemaligen italienischen
Ministerpräsidenten Enrico Letta „Viel mehr als ein Markt“
(April 2024), des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank und
ebenfalls ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi
„Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ (September
2024) und des ehemaligen finnischen Präsidenten Sauli Niinistö „Zur
Stärkung der zivilen und militärischen Bereitschaft Europas“
(veröffentlicht am 30. Oktober).
Sie sind sehr umfassend und interessant. Alle drei haben das
gleiche Ziel – sie fordern eine deutliche Ausweitung der Befugnisse
Brüssels, um die wirtschaftlichen Fähigkeiten, die
Wettbewerbsfähigkeit und die militärische Macht Europas zu
verbessern. Sie enthalten auch direkte Unterstützung für
spezifische Initiativen der EU-Kommission, darunter die Umstellung
auf „grüne“ Energie, die Änderung der EU-Haushaltsregeln, die
Abschaffung des Vetorechts im EU-Rat (was die europäischen
Hauptstädte gleich in vielen Bereichen radikal schwächen wird) und
vieles mehr.
Die Berichte enthalten auch offen schockierende oder revolutionäre
Vorschläge: Niinistö schlägt vor, 20 Prozent des EU-Haushalts für
die Verteidigung bereitzustellen, die EU-Kommission zu ermächtigen,
in allen Verteidigungsfragen zu entscheiden, und die Kriegspropaganda
zu intensivieren, bis hin zur direkten Vorbereitung der gesamten
EU-Bevölkerung auf mögliche militärische oder technisch bedingte
Katastrophen.
Die Berichte von Letta und Draghi unterscheiden sich nur in den
Themen, nicht aber in der Tiefe der vorgeschlagenen Änderungen. Sie
sprechen von einer Erhöhung der Investitionen in „grüne“
Energie um Hunderte von Milliarden Euro, von einer weit breit
angelegten Rückkehr zu protektionistischen Praktiken, die ein wenig
von dem ökologischen Schutzschild überdeckt werden. Der Bericht von
Letta enthält zum Beispiel auch die These, dass die Patent- und
Urheberrechte in der EU faktisch abgeschafft oder in ihrer Wirkung
eingeschränkt werden sollen, um den Austausch wissenschaftlicher
Ideen zu beschleunigen und die wissenschaftliche Entwicklung in
Europa voranzutreiben.
Die „drei Berichte“ sagen eines aus: Europa braucht
revolutionäre Veränderungen, und die werden tiefgreifend und
komplex sein. Man müsse Brüssel (also von der Leyens Team) mit
beispiellosen Befugnissen ausstatten, um sie umzusetzen, und das
würde der EU eine glänzende Zukunft sichern.
Das Bild der Euro-Zukunft
Analysiert man die öffentlichen Reden von der Leyens, die
Ausrichtung der ersten EU-Kommission und die Bildung der zweiten, so
lässt sich das Bild der europäischen Zukunft, wie es sich
darstellt, ziemlich klar umreißen: eine digitale, pseudo-grüne,
militarisierte Wirtschaft und ein streng kontrollierter innerer
Medienraum. Die Kontrolle der wichtigsten Finanzströme sowie die
Entwicklung von Regulierungsnormen für diese Gesellschaft werden in
den Händen verschiedener Brüsseler Institutionen oder ihrer
Behörden liegen, die formal in jedem europäischen Land ihren Sitz
haben können.
Auch die formale Verantwortung für das Leben der EU-Bürger
werden weiterhin die nationalen Regierungen tragen, die bei Wahlen
gewählt werden, aber der wichtigsten souveränen Befugnisse beraubt
sind, nämlich dem Recht, ihren eigenen Haushalt zu bestimmen, Außen-
und Verteidigungspolitik zu betreiben, ihre eigenen Unternehmen zu
unterstützen und nationale Gesetze und Vorschriften zur Wirtschaft
zu erlassen. Zwei Drittel der Befugnisse aus dieser Liste der
europäischen Hauptstädte sind übrigens bereits an Brüssel
übertragen worden.
Außenpolitisch will diese Struktur eine möglichst expansive
Position einnehmen und sich durch politischen und diplomatischen
Druck, Einfluss auf Medien und Investitionsdurchdringung den Zugang
zu den notwendigen Schlüsselressourcen sichern. In ihrem
Euro-Imperium will von der Leyen die „verlorene Zeit aufholen“
und den politischen und wirtschaftlichen Einfluss der EU nicht nur
durch militärische Macht ergänzen, sondern die europäische
Gesellschaft von der Propaganda bis zur praktischen Gewaltprojektion
in entlegene Regionen militarisieren. Und Europa soll in diesem
Weltbild eine vollständige technologische Dominanz gegenüber seinen
Gegnern haben, die sich in militärische und wirtschaftliche Dominanz
verwandelt, vor allem durch die Entwicklung digitaler Technologien
und den Einsatz von Neuronetzen.
Von der Leyen ist offensichtlich zuversichtlich, dass ihr
Euro-Imperium in der Lage sein wird, einen qualitativen
Technologiesprung zu machen, auch wenn es scheint, dass
Fehleinschätzungen im Bereich der „grünen“ Energie und
unerfüllte Erwartungen an das baldige Auftauchen einer grundlegend
neuen Energiespeichertechnologie diese Vorstellung erschüttern
könnten.
Es ist wichtig zu erkennen, dass nur der globalistische und
atlantische Kreis, der in der Öffentlichkeit durch von der Leyen
verkörpert wird, einen konkreten, wenn auch ziemlich düsteren Plan
für die Zukunft Europas hat. Die führenden nationalen Politiker in
erster Linie der Schlüsselländer der Union, Deutschland und
Frankreich, die das europäische Projekt jahrzehntelang definiert
haben, können heute nichts mehr anbieten.
Daher ist der Brüsseler Plan im Moment alternativlos.
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