Die praktische Bedeutung des § 19 InsO, der jetzt geändert worden ist (Wegfall des Insolvenzgrundes der Überschuldung bei positiver Fortführungsprognose), liegt tatsächlich im Vorfeld des Insolvenzverfahrens. Und zwar durch das Zusammenspiel von § 19 InsO mit § 64 GmbHG, § 92 AktG (und § 283 StGB). Die scharfe zivil- und strafrechtliche Haftung, die sich aus diesen Vorschriften ergibt, hat bisher die Geschäftsführer gezwungen, bei Überschuldung das Insolvenzverfahren einzuleiten. Jetzt können sie sich ein Gutachten eines privaten Unternehmensberaters o.ä. besorgen, in dem der Gesellschaft eine günstige Prognose attestiert wird. Wenn dann das Kind doch in den Brunnen fällt und später ein Insolvenzverfahren eröffnet wird, kann sich der Geschäftsführer darauf berufen, dass er nach fachmännischer Beratung von einer positiven Fortführungsprognose ausgehen konnte. Damit entfällt das für die o.g. Paragraphen erforderliche Verschulden (vgl. BGH, Urt. vom 14.05.2007 - II ZR 48/06). Da der Geschäftsführer (mit einem seriös wirkenden Gutachten im Rücken) keine persönliche Haftung mehr fürchten muss, setzt er den Betrieb fort. Das Risiko, dass das rechnerisch bereits überschuldete Unternehmen sich nicht mehr erholt, tragen die Neugläubiger.
Da sehr viele (die meisten? ) Unternehmen nur deswegen insolvent werden, weil sie ihre Forderungen bei selbst insolvent gewordenen Schuldnern nicht mehr einbringen können, gibt es einen Dominoeffekt. Wenn jetzt vermehrt rechnerisch bereits überschuldete Gesellschaften am Markt agieren, wird es voraussichtlich auch mehr auf Schuldnerausfall beruhende Insolvenzen geben. Oder die Wirtschaft reagiert, indem sie nur noch gegen Vorkasse, persönliche Haftung, Sicherheitsleistung o.ä. liefert. Das wird die Gesellschaften, die ihren Bankkredit bereits ausgeschöpft haben, strangulieren. Letztlich führt die Lockerung des Gläubigerschutzes so oder so zur Rezession.
Die einzig seriösen Methoden, eine überschuldete Gesellschaft vor dem Untergang zu bewahren, ist die Zufuhr von Eigenkapital oder die Übernahme eines Teils ihrer Schulden. Den ersten Weg gehen anscheinend die Briten (nach dem Vorbild der Skandinavier in den 80ern), indem sich der Staat mit Eigenkapital an den notleidenden Gesellschaften mit allen Rechten und Pflichten eines ordentlichen Gesellschafters (also keine Vorzugsaktien!) beteiligt. Den zweiten Weg gehen anscheinend die Amerikaner, indem der Staat einen Teil der Schulden übernimmt. Eine Sanierung durch Lockerung des Gläubigerschutzes ist nur sinnvoll, wenn man die Vernichtung vieler kleiner und mittlerer Unternehmen in Kauf nehmen will. Die Änderung des § 19 InsO ist m.E. ein Kapitalfehler. Man hätte die Änderung wenigstens auf das Bankgewerbe beschränken und für die Fortführungsprognose ein Attest des BaFin vorsehen sollen.
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