Welt am Sonntag vom 21.11.2004
Zehn Antworten zum Leistungsbilanzdefizit
Amerika borgt sich mehr Geld im Ausland als jemals zuvor. Das bringt den Dollar unter Druck von Ulrich Machold
Mit dem richtigen Anlaß schaffen es auch Zungenbrecher bis ins Fernsehen. Jüngstes Beispiel ist das Leistungsbilanzdefizit.
Was verstehen Volkswirte unter einem Leistungsbilanzdefizit?
Die Leistungsbilanz ist der Unterschied zwischen den Exporten und Importen von Gütern, Dienstleistungen und bestimmten Kapitalerträgen und -transfers. Da der Handel meist den größten Teil davon ausmacht, heißt ein Leistungsbilanzdefizit normalerweise, daß eine Volkswirtschaft mehr importiert als exportiert - und daß sie selbst nicht genug Geld erwirtschaftet, um all diese Importe zu bezahlen.
Warum Amerika?
Die Amerikaner kaufen derart viele Waren im Ausland, daß das Land pro Tag 1,7 Milliarden Dollar Kredit vom Rest der Welt benötigt. Da die Wirtschaft stark wächst und die Menschen optimistisch sind, geben sie fast all ihr Geld für den Konsum aus. Dazu kommt, daß die Regierung von George W. Bush allein in diesem Jahr einen Schuldenberg von fast 413 Milliarden Dollar angehäuft hat. Die USA geben 600 Milliarden Dollar mehr aus, als sie selbst verdienen.
Wer finanziert das amerikanische Defizit?
Daß Amerika über seine Verhältnisse lebt, wird de facto von Nicht-Amerikanern bezahlt. Die USA schlucken momentan 75 Prozent der Leistungsbilanzüberschüsse aller anderen Industrieländer. Ihre größten Schuldner sitzen in Asien, vor allem in der Volksrepublik China und Japan. Viele asiatische Länder haben ihre Währungen zu künstlich niedrigen Kursen an den US-Dollar gekoppelt.
Warum soll das eigentlich ein Problem sein?
Das Defizit selbst ist eigentlich kein Problem. Schwierig wird es, wenn es abzunehmen beginnt. Märkte tendieren zu Gleichgewichten, früher oder später sollte die US-Leistungsbilanz nach Meinung der meisten Ökonomen daher wieder ausgeglichen sein. Der normale Mechanismus dafür ist der Wechselkurs. Und die Hauptlast wird der Euro zu tragen haben.
Was sind die Folgen?
Wenn der Dollarkurs unter Druck kommt, sind die in Dollar notierten US-Schulden im Ausland weniger wert. Geschieht dies zu schnell, könnten Großanleger ihr Geld aus den USA abziehen, damit es nicht noch weiter an Wert verliert. Das Ergebnis wären Kursverluste an den US-Börsen und im schlimmsten Fall ein unkontrollierter Absturz des Dollars, der das gesamte Weltfinanzsystem ins Wanken bringt. Die Wahrscheinlichkeit dafür wird von einigen Experten immerhin bei 75 Prozent gesehen.
Wie stark ist Deutschland betroffen?
Fällt der Dollar, steigt der Euro, und europäische Exporte verlieren in Amerika an Wettbewerbsfähigkeit. Die deutsche Wirtschaft dürfte darunter besonders leiden, da die Binnennachfrage hierzulande seit Jahren stagniert. Allerdings werden nur noch knapp zehn Prozent der deutschen Exporte in Dollar abgerechnet, der Schaden hielte sich also in Grenzen. "Wir sind zwar nicht erfreut über den Dollarkurs, aber wir geraten auch nicht in Panik", sagt Anton Börner, Präsident des Bundesverbands des Deutschen Groß- und Außenhandels. Dazu kommen noch die Verluste der Anleger, die amerikanische Aktien oder Anleihen halten.
Was sagen Amerikaner dazu?
Davon abgesehen, daß weder die US-Regierung noch die Notenbank ein Blutbad an den Devisenmärkten gutheißen könnten, hat Amerika wenig zu verlieren. Wenn der Dollar geordnet fällt, werden amerikanische Exporte wettbewerbsfähiger. Der Prozeß ist bereits im Gange. Auf diesem Wege würde das Leistungsbilanzdefizit langsam abgebaut. "Unsere Währung - euer Problem", fand der damalige US-Finanzminister John Connally.
Was kann man tun?
Am schmerzlosesten wäre es, wenn Amerika einfach weniger importieren und mehr exportieren würde. Dafür bräuchte es aber Käufer für seine Waren. Und hier steckt das Dilemma. Würde Europas Wirtschaft stärker wachsen, wäre auch das US-Defizit geringer. Im Gegenteil hoffen aber vor allem die Deutschen darauf, daß die US-Nachfrage sie aus der Wirtschaftsflaute zieht. Von dieser Seite ist also wenig Unterstützung zu erwarten. Ähnliches gilt für den größten Teil Asiens. Immerhin wächst in China die Bereitschaft, etwas gegen die unterbewertete Landeswährung zu unternehmen. Doch damit allein ist das Problem nicht zu lösen.
Muß es so kommen?
Einige Ökonomen sind allerdings der Meinung, daß das Riesendefizit nicht unbedingt der Korrektur bedarf. Michael Dooley, David Folkerts-Landau und Peter Garber von der Deutschen Bank beispielsweise glauben, daß sich vielmehr eine Art inoffizielles Währungssystem etabliert haben könnte. Vor allem die Chinesen kaufen demnach Dollar, um ihre Exporte zu verbilligen und gleichzeitig die Zinsen in Amerika niedrig zu halten. Denn wenn es genug Nachfrage nach US-Staatsanleihen gibt, muß deren Zinssatz nicht automatisch steigen. Niedrige Zinsen wiederum bedeuten billige Kredite in Amerika und viel Konsum der Amerikaner, die geborgtes Geld ausgeben. Gekauft werden Importe aus China, womit sich der Kreis schließt. Das könnte noch Jahre so weitergehen.
Wonach sieht es momentan aus?
Zur Sichtweise der neuen Schule paßt, daß das US-Defizit schon seit Jahren hoch ist. Ebenso alt sind die Prognosen eines baldigen Dollar-Absturzes. Passiert ist bislang wenig. Vielmehr war der Dollar in den vergangenen 30 Jahren immer dann stark, wenn das Leistungsbilanzdefizit hoch war. Der Grund: Wenn es der US-Wirtschaft gut geht, ist das Land auch für Investitionen attraktiv. Seit zwei Jahren verliert die US-Währung aber parallel zum Defizitanstieg langsam an Wert. Die EZB schaffte es im Januar noch, den Anstieg des Euro nur mit Worten aufzuhalten. Dieses Mal könnte das nicht mehr reichen. Und wenn der Dollar erst fällt, gibt es leicht kein Halten mehr. Der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff sagt voraus, daß die US-Währung bei einer abrupten Korrektur des Ungleichgewichts schnell um bis zu 40 Prozent an Wert verlieren könnte. Die Analysten der Investmentbank Morgan Stanley schätzen, daß erst bei Kursen ab 1,80 Dollar pro Euro das Leistungsbilanzdefizit abnimmt.