Bevor er wieder unter der Bezahlschranke verschwindet, hier ein lesenswerter Artikel aus der Wirtschaftswoche
Weltwirtschaft: USA und China machen den gleichen Fehler (wiwo.de)
Es ist verlockend, der amerikanischen Zentralbank Fed große Anerkennung für ihre jüngste Kehrtwende bei der Inflationsbekämpfung zu zollen. Ebenso verlockend ist es, dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping große Anerkennung für seine Führung eines aufstrebenden und starken Chinas zu zollen. Aber keiner von beiden verdient sie – und das aus ähnlichen Gründen.
Ja, die US-Notenbank hat den Leitzins (Federal Funds Rate, FFR) nun dreimal in Folge um 75 Basispunkte angehoben – die stärkste Erhöhung des Leitzinses innerhalb von vier Monaten seit Anfang 1982. Viele Politiker und Experten protestieren lautstark und warnen vor den Risiken einer Übertreibung. Ich bin da anderer Meinung. Es war höchste Zeit für die Fed, sich aus dem tiefsten Loch zu graben, in dem sie je steckte.
Die nominale FFR, die jetzt effektiv bei 3,1 Prozent liegt, bleibt fünf Prozentpunkte unter dem Dreimonatsdurchschnitt der Verbraucherpreisinflationsrate von acht Prozent. Ungeachtet der neu entdeckten Entschlossenheit der Fed, einen ernsthaften Ausbruch der Inflation zu verhindern, ist es nahezu unmöglich, dieses Ziel mit einer stark negativen realen FFR von etwa minus fünf Prozent zu erreichen.
Die Fixierung der Fed auf die Kerninflation ist gefährlich
Der Fed-Vorsitzende Jerome Powell hat nun eingeräumt, dass eine restriktive Geldpolitik erforderlich sein wird, um die Inflation zu zähmen. Lassen Sie uns entschlüsseln, was das bedeutet. Auf der Grundlage des Verbraucherpreisindex liegt der neutrale Leitzins – im Grunde ein Durchschnitt der realen FFR von 1960 bis 2021 – bei plus 1,1 Prozent. Restriktiv ist per Definition eine Zahl, die größer ist als die Neutralität; nennen wir sie der Einfachheit halber eine reale FFR von zwei Prozent. Mit der aktuellen realen FFR von minus fünf Prozent ist die Fed nicht einmal annähernd neutral, geschweige denn restriktiv.
An dieser Stelle wird die Debatte kompliziert: Powell behauptete auf seiner Pressekonferenz am 21. September, dass sich die Fed-Politik jetzt am unteren Ende der restriktiven Zone befindet. Er begründete diese Einschätzung mit der zugrunde liegenden Inflation, die anhand des so genannten Kerndeflators des persönlichen Verbrauchs gemessen wird, der Lebensmittel und Energie ausschließt. Die jährliche Kerninflation auf dieser Basis lag bis Juli bei 4,6 Prozent.
Dies ist aus zwei Gründen eine enttäuschende Feststellung: Der nominale FFR liegt immer noch weit unter der von Powell bevorzugten Inflationskennzahl, und, was noch wichtiger ist, die Fixierung der Fed auf die Kerninflation ist gefährlich. Letzteres galt schon in den frühen 1970er-Jahren, als ich zu den Fed-Mitarbeitern gehörte, die die Kerninflationsrate entwickelten, und es gilt auch heute noch.
Die Prämisse der Kerninflation besteht darin, größere Preisschocks als vorübergehend abzutun, so wie es Powell ursprünglich getan hat. Ich werde immer noch von der Erbsünde meines ersten Chefs, des Fed-Vorsitzenden Arthur Burns, heimgesucht, der vor etwa fünfzig Jahren einen vorübergehenden Schock nach dem anderen ignorierte, bis es viel zu spät war. Die schmerzhafte Lektion: Eine Fed, die mit der Kerninflation lebt, kann mit der Kerninflation sterben.
Für China geht es beim Kern weniger um die Inflation als vielmehr um die persönliche Dimension der Führung. Xi Jinping, Chinas selbst ernannter zentraler Führer, steht im Mittelpunkt eines außergewöhnlichen Rückschritts in der chinesischen Staatsführung. Im Gegensatz zur Reform- und Öffnungspolitik, die vor über vier Jahrzehnten unter Deng Xiaoping begann, ist die harte Hand der Xi-zentrierten Kommunistischen Partei nun überall zu spüren. Dies gilt insbesondere für die regulatorischen Angriffe auf Internet-Plattformen, die lange Zeit die Speerspitze des dynamischen chinesischen Privatsektors waren, sowie für den neuen Vorstoß in Richtung Einkommens- und Vermögensumverteilung unter dem Deckmantel von Xis Kampagne des „gemeinsamen Wohlstands“.
Der Mangel an politischem Instinkt in der Führung in Peking hemmt die unternehmerischen Aktivitäten und Neugründungen, bremst Innovationen und Produktivität. Das Ausbleiben eines Produktivitätsschubs ist vor dem Hintergrund der raschen Alterung der Bevölkerung besonders beunruhigend, da diese das Wachstumspotenzial der Wirtschaft begrenzt. Der Mangel an politischem Instinkt in der Regierung belastet zudem die Perspektiven für den privaten Konsum. Die Bevölkerung ist in Sorge um ihre Zukunft und sucht ihr Heil im Vorsorgesparen. So bleibt auch der private Konsum hinter seinen Möglichkeiten zurück.
Weil Chinas zentraler Führer durch seine Fixierung auf Ideologie und Kontrolle geblendet und somit nicht auf das vor ihm liegende raue Wirtschaftsklima vorbereitet ist, könnten seine Probleme gerade erst beginnen. Dies ausgerechnet wenige Wochen vor dem 20. Parteikongress, von dem allgemein erwartet wird, dass er Xi eine beispiellose dritte fünfjährige Amtszeit als Chinas Führer bescheren wird.
Anfälligkeit für politische Fehler
Die Fixierung der Fed auf die Kerninflation und die Fixierung Chinas auf Xi als zentralen Führer haben eine wichtige Gemeinsamkeit: die Anfälligkeit für größere politische Fehler. In dem Maße, in dem die geldpolitischen Entscheidungsträger die Hartnäckigkeit der Inflation unterschätzen, weil sie nur auf die Kerninflation schauen, unterschätzen sie die ultimative geldpolitische Straffung, die erforderlich sein wird, um die Inflation wieder auf das Zwei-Prozent-Ziel zurückzuführen.
Ich vermute, dass die nominale FFR in den Bereich von fünf bis sechs Prozent steigen muss, um diese Aufgabe zu erfüllen. Die Fed hat ihre Inflationsbekämpfungskampagne möglicherweise erst zur Hälfte abgeschlossen. Das deutet auf eine Rezession in den Vereinigten Staaten im Jahr 2023 hin, die zu dem bereits in Europa zu beobachtenden Abschwung hinzukommt. China, das sich derzeit inmitten eines ungewöhnlich starken Abschwungs befindet, wird keine Oase des Wachstums sein. Eine weltweite Rezession im nächsten Jahr ist so gut wie unvermeidlich.