Quelle: Neue Solidarität http://www.solidaritaet.com/neuesol/2006/8/index.htm
Weltfinanzsystem so marode wie die DDR kurz vor 1989
Immer öfter ist zu hören: "Wir steuern auf eine große Finanzkrise zu." Ein Kollaps der weltweiten Finanzblasen droht an mindestens drei Fronten: dem Kurs des US-Dollar, den Immobilienmärkten und dem weltweiten Derivatekasino.
Mit ungewöhnlichen Worten eröffnete der russische Präsident Wladimir Putin am 11. Februar das Treffen der G-8-Finanzminister in Moskau. Er forderte die Minister auf, mit einer Reihe von Maßnahmen der anhaltenden Instabilität auf den Energiemärkten zu begegnen. Denn hier liege die eigentliche Gefahr für die Versorgungssicherheit bei Strom und Rohstoffen. Die Energiemärkte, wobei er offenbar gerade die Ölterminbörsen im Blick hatte, seien heute zahlreichen Risiken ausgesetzt. Gerade in den jetzigen Krisenzeiten sei es nötig, die Zusammenarbeit zwischen den Produzenten und Verbrauchern von Energie zu verstärken, um so die Märkte zu stabilisieren. Dann fügte Putin warnend hinzu: "Die globale Wirtschafts- und Finanzarchitektur könnte sich als instabil erweisen."
Aus ganz anderer Ecke kommen ähnliche Äußerungen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. Februar erklärte Fondsmanager Peter Huber: "Wir steuern auf eine große Finanzkrise zu." Das gewaltige Defizit in der amerikanischen Handelsbilanz wird weiter wachsen und über kurz oder lang eine massive Abwertung des US-Dollar einleiten, wobei der Goldpreis bis auf 2000 Dollar steigen könnte. Zugleich hat die beliebige Kredit- und Geldvermehrung eine unhaltbare Lage auf den Finanzmärkten geschaffen. "Die Assets-Preise sind in fast allen Bereichen höher, als es fundamental gerechtfertigt wäre. Es entwickeln sich Blasen, etwa im Immobiliensektor." Die Preisexplosion bei Rohstoffen wird sich "schrittweise anderswo niederschlagen" und die Zinsraten hochschießen lassen. Das gesamte Finanzsystem sei vergleichbar mit der "ehemaligen DDR. Jeder wußte, daß der Staat marode war. Dann kam der Zusammenbruch viel schneller als gedacht."
Für Leser dieser Zeitung ist das nichts Neues, sie erinnern sich, daß die BüSo-Chefin Helga Zepp-LaRouche schon vor Jahren sagte: "Das westliche System der liberalen Freien Marktwirtschaft ist heute genauso bankrott wie die DDR kurz vor 1989." Neu ist nur, daß es jetzt auch andere sagen und daß es sogar veröffentlicht wird. Eine gewisse Rolle spielt hierbei der Umstand, daß die wirtschaftlichen und finanziellen Instabilitäten eng mit den aktuellen geopolitischen Zuspitzungen verknüpft sind.
Dies gilt in zweierlei Hinsicht. So hat die Auseinandersetzung mit dem Iran zum Beispiel unmittelbare Auswirkungen auf die Preisentwicklung bei Rohölkontrakten. Mindestens ebenso wichtig ist aber die Umkehrung: Das Wissen um den völlig zerrütteten Zustand des auf dem US-Dollar beruhenden Weltfinanzsystems ist eine treibende Kraft hinter der Politik der amerikanischen Administration, welche nach außen auf Eskalation und nach innen auf polizeistaatliche Einschränkungen setzt.
Bei der Betrachtung der Gesamtlage des weltweiten Finanzsystems kann man verschiedene Schauplätze unterscheiden, die natürlich aufeinander einwirken.
Schauplatz 1: US-Dollar vor dem Kollaps
Seit dem Untergang des Bretton Woods-Systems im Jahre 1971 entscheiden nicht mehr Regierungen, sondern spekulative Investoren über die Währungskurse. Dabei kam aber dem US-Dollar bislang eine Sonderrolle zu. Denn dieser wurde trotz der von US-Präsident Nixon aufgekündigten Goldeinlöseverpflichtung weiterhin als die Reservewährung betrachtet. So kann es sich die amerikanische Wirtschaft erlauben, jedes Jahr für 700 Milliarden Dollar mehr Güter aus dem Ausland zu importieren, als sie ins Ausland exportiert. Die Differenz begleicht man eben mit Dollarpapieren, welche die jeweiligen Zentralbanken einsammeln und auf eine große Halde legen, die sogenannten Devisenreserven. Ohne diese Funktion als internationale Reservewährung wäre der Dollar längst auf einen Bruchteil seines heutigen Wertes zusammengeschmolzen.
Nun ist aber dieses Spiel in den vergangenen Jahren derart aus dem Ruder gelaufen, daß die weitere Aufnahmefähigkeit der asiatischen Zentralbanken nicht mehr gewährleistet ist. Im Jahre 2005 erreichte das US-Handelsdefizit den neuen Allzeitrekord von 726 Mrd. Dollar. Läßt man die Dienstleistungen außer acht, so lag der Fehlbetrag gar bei 782 Mrd. Dollar. Die Wachstumsrate der in erheblichem Maße auf Pump gekauften US-Importe beträgt 13,1 Prozent. In Japan und China explodieren zugleich die Währungsreserven. China verfügte hier vor fünf Jahren noch nicht einmal über 200 Mrd. Dollar. Bis zum Jahresende 2003 verdoppelten sich die chinesischen Währungsreserven auf 400 Mrd. Dollar. In den letzten beiden Jahren haben sie sich erneut auf nunmehr 800 Mrd. Dollar verdoppelt. Allein bei den Zentralbanken Japans und Chinas haben sich auf diese Weise rund 1700 Mrd. Dollar an Reserven angesammelt, wovon der Hauptteil auf Dollarpapiere entfällt.
Beide Länder haben kein Interesse an einem Dollarcrash. Aber die Grenzen sind bald erreicht. Japan wird demnächst seine fünfjährige Nullzinspolitik beenden, die bislang den Hunger japanischer Investoren auf amerikanische Regierungsanleihen sichergestellt hatte. China hat kürzlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, in Zukunft die Reserven zu "diversifizieren". Andere Zentralbanken, etwa die russische, haben längst begonnen, die Reserven mit einem höheren Anteil von Gold auszustatten.
Diese Entwicklungen werden durch die strategischen Zuspitzungen beschleunigt. So will der Iran im März eine in Euro abwickelnde Ölbörse einrichten, und Syrien ab April den gesamten Außenhandel von Dollar auf Euro umstellen. Früher oder später droht auf den internationalen Devisenmärkten eine Schwemme überschüssiger Dollars. Um einen Dollar-Kollaps zu vermeiden, müßte die Federal Reserve mit schockartigen Zinserhöhungen reagieren.
Schauplatz 2: Globale Immobilienblase
Genau das wäre aber das Todesurteil für die verschiedenen kreditfinanzierten Vermögenswertblasen, auf denen sich heute die amerikanische Wirtschaft und die halbe Weltwirtschaft stützen. Mit historischen Tiefzinsen haben die Zentralbanken, allen voran die Federal Reserve, den Marktwert von Häusern im OECD-Raum binnen fünf Jahren von 30 auf 70 Billionen Dollar aufgepumpt, um dadurch einen Ersatz für die geplatzte Aktienmarktblase zu schaffen.
Tatsächlich handelt es sich hier, auch im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt der betroffenen Länder, um eine Vermögenswertinflation, die in ihrem Ausmaß sämtliche Aktienmarktblasen der vergangenen hundert Jahre deutlich übertrifft. Den gestiegenen Häuserpreisen stehen ebenso rasch ansteigende Hypothekenkredite gegenüber. In den USA hat sich die Neuverschuldung mit Hypothekenkrediten seit der Mitte der neunziger Jahre mehr als verfünffacht und nun erstmals die Rate von einer Billion Dollar pro Jahr überschritten. Die Gesamtverschuldung der amerikanischen Wirtschaft wächst jedes Jahr um 3 Billionen Dollar.
Immobilienblasen sind freilich kein amerikanisches Privileg. In allen angelsächsischen Ländern gibt es das gleiche Problem. Und auch innerhalb der Eurozone, etwa in Spanien, Irland, aber auch in Frankreich, haben sich Hauspreisblasen gebildet, die zumeist mit dramatischen Kreditexpansionen einhergehen. Die Wachstumsrate bei Immobilienkrediten in Spanien betrug im dritten Quartal 24 Prozent, in Frankreich 13 Prozent.
In ihrem neuesten Monatsbericht spricht die Europäische Zentralbank in ungewöhnlich offener Form die Gefahr eines europäischen Immobiliencrashs an. Relativ zu den ökonomischen Fundamentaldaten lägen die Preise für Wohneigentum in einigen Ländern der Eurozone erheblich über ihren historischen Durchschnittswerten. Dies könne als "erstes Anzeichen einer wachsenden Gefahr der Überbewertung gesehen werden." Die Konsequenzen für die Volkswirtschaften der Eurozone wären verheerend.
Vom Standpunkt des globalen Finanzsystems ist allerdings die amerikanische Immobilienblase die weitaus gefährlichste. In Japan waren nach dem Platzen der dortigen Aktien- und Immobilienblase zu Beginn der neunziger Jahre mindestens 1200 Mrd. Dollar an faulen Schulden entstanden. Das größte Bankensystem der Welt wurde nur mit gigantischen Rettungspaketen des Steuerzahlers vor dem vollständigen Zusammenbruch bewahrt. In den USA stehen heute 8,5 Billionen Dollar an Hypothekenkrediten auf dem Spiel.
Bei knapp der Hälfte dieser Schulden haben zwei halbstaatliche Finanzinstitute ihre Hände im Spiel: Fannie Mae und Freddie Mac. Sie kaufen den Geschäftsbanken laufend die neuen Hypothekenkredite ab und bündeln diese in "hypothekengesicherte Wertpapiere", die sodann in alle Welt verkauft werden. Einen Teil der Hypothekenkredite behalten Fannie und Freddie in ihren Büchern, wobei sie sich über die Emission von Anleihen refinanzieren. Ein beträchtlicher Anteil der Dollarpapiere in den Tresoren der asiatischen Zentralbanken sind derartige Fannie- oder Freddie-Anleihen.
Weil nun aber bei diesem ganzen Treiben Zinsen unterschiedlichster Laufzeiten eine Rolle spielen, versuchen Fannie und Freddie sich obendrein mit speziellen Zinswetten in Billionenhöhe "abzusichern". Bei seinem ersten Auftritt im Kongreß als neuer Fed-Vorsitzender bemühte sich "Helikopter"-Ben Bernanke, die Gefahrenlage schönzureden. Er konnte aber nicht umhin, das allein durch Fannie Mae und Freddie Mac repräsentierte Systemrisiko anzusprechen. Man müsse dringend Maßnahmen ergreifen, um das Portfolio der beiden Finanzinstitute zu begrenzen.
Schauplatz 3: Das globale Derivatekasino
Jeder Kontrolle durch Regierungen oder Zentralbanken entzieht sich die, nach Nominalvolumen gerechnet, dominierende Aktivität des heutigen Finanzsystems: Das Wetten auf zukünftige Finanzwerte. Die großen Banken und ihr verlängerter Arm für besonders riskante und dubiose Finanzabenteuer, die Hedgefonds, sind die wichtigsten Spieler im Derivatekasino.
Ein Teil dieser Finanzwetten wird an entsprechenden Börsen abgewickelt. Dazu zählen unter anderem auch die Terminbörsen für Rohöl oder Edelmetalle in London, New York und Tokio. Um ein Vielfaches höher ist allerdings der tägliche Umsatz mit Wetten auf künftige Zinsraten oder Währungskurse. Die Mehrheit der Finanzderivate wird inzwischen abseits irgenwelcher Börsen gehandelt. Es handelt sich dann um ganz private Wetten zwischen je zwei Parteien. Niemand kennt daher den genauen Jahresumsatz mit Finanzderivaten. Sicher ist jedenfalls, daß es sich hier um eine Summe handelt, die im deutschen Sprachraum in Billiarden und im englischen in "quadrillions" zu rechnen ist.
Zu der am schnellsten wachsenden Sorte von Finanzderivaten gehören Kreditderivate, Wetten auf die Fähigkeit großer Unternehmen, ihre Anleihen oder Kredite pünktlich zu begleichen. Der Zeitraum, in dem sich das Volumen ausstehender Kreditderivate jeweils verdoppelt, liegt bei weniger als einem Jahr. Schon die Herunterstufung von General Motors hatte im vergangenen Jahr eine Schockwelle bei Kreditderivaten ausgelöst und Dutzende von Hedgefonds ins Schleudern gebracht.
Insgesamt tickt bei Finanzderivaten eine Zeitbombe, die jederzeit an irgendeinem Ende der Welt explodieren und dann infolge der gegenseitigen Verstrickung aller Großbanken durch bilaterale Kontrakte den Systemkollaps herbeiführen kann. Nach J.P. Morgan ist die Deutsche Bank der wichtigste Derivatspieler. Die ausstehenden Finanzwetten der Deutschen Bank belaufen sich auf rund 20 Billionen Euro, das entspricht beispielsweise den Steuereinnahmen des Bundes in den nächsten 100 Jahren.
Lothar Komp