Gestern hatte ich noch gedacht: wen oder was könnte er nur hier im Forum meinen? Aber vermutlich hat er recht: dieses "lebe im Moment", "genieße den Augenblick", "mach was dir Spaß macht", "glücklich zu sein ist alles was zählt" klingt vordergründig tiefgründig, ist aber im Kern egoistisch - materialistisch - hedonistisch grundiert, wenn nicht etwas wichtiges hinzukommt, was das Selbstische ordnet: klassisch nennt man es Transzendenz, säkular gesprochen Sinn, Aufgabe, Richtung. Der Grabstein von Robert Spaemanns Ehefrau Cordelia soll die Inschrift tragen: "Sie liebte das Leben, aber sie hing nicht daran."
Keinen von uns wird es schwer fallen, die schönen Augenblicke des Lebens zu genießen (man besuche den Faden "Was gibt's zu essen? ). Ist das unser Existenzproblem: zu wenig Selbstgenuß? Ist es das, was das Leben gelingen läßt? Ist damit das menschliche Existenzproblem im Ansatz berührt?
Raphael Bonnelli bemüht sich um eine Übersetzung überzeitlicher Weisheitslehren in die Sprache der Psychologie, neuerdings in "Die Weisheit des Herzens. Wie wir werden, was wir sein wollen" (2024). Sein Punkt: das menschliche Herz als Mitte des Menschen braucht die Ausrichtung auf geistige Werte. Der Mensch lebt nur ganz aus seiner Mitte, aus der heraus er seine Welt ordnet, aber seine Mitte findet er nicht in der Konzentration auf sich selbst. Viktor Frankl erzählt in seinem Buch "Ja zum Leben sagen" (EA Ein Psycholog erlebt das KZ) von dieser Selbstbeziehung, Romano Guardini hat 2 Generationen von Jugendlichen durch "Die Annahme des Daseins" erzogen, ein Klassiker schlechthin sind die "Confessiones" von Augustinus...
Wie bemerkte Karl Valentin: "Habe mich gestern besucht. War auch nicht viel los." Und dieses Ich, das sich selbst fremd ist, soll einfach den Moment genießen, damit es bei sich ankommt, obwohl es sich selbst nicht kennt?