Ich muss mal wieder den Buhmann spielen und den Finger in die Wunde legen. Andere tun es ja nicht. Zwar sind hier die Stimmen der Traumtänzer, die einen raschen Durchmarsch der Russen nach Transnistrien oder gar bis Warschau prognostiziert haben, stiller geworden. Einige hier haben aber den Ernst der Lage noch nicht erkannt.
In Lyman sieht die Lage für die Russen katastrophal aus. Lyman liegt im Oblast Donezk. Offenbar ist der Kreml nicht einmal in der Lage regional und punktuell seine Truppen in Not mit zusätzlichen Verbänden zu unterstützen. Die russische Luftwaffen erzeugt kaum mehr eine spürbare Wirkung. Die Ukrainer bewegen offenbar fast nach Belieben schweres Gerät und sitzen immer noch 10 km vor Donezk. Ich frage mich, wie es um die Bestände der gelenkten Munition bei den Russen aussieht.
Das Rückgrat der "Spezialoperation" bilden 20'000 Tschetschenen, 20'000 Wagnersöldner und ein paar Milizionäre der neuen Volksrepubliken. Das ist nichts. Der Grenzverlauf beträgt immer noch über 1'000 km, das Territorium ist riesig. Die Mobilisierungsquote in den neuen VR ist bisher miserabel. Bei ehemals 7 Mio. Einwohnern, kommen sie auf gerade mal 30'000 Mann (eine Quote von nicht mal 0.5 %). Das erreichte sogar die UCK des viel kleineres Kosovos. (Zum Vgl. die CH hatte in den 60igern bei 6 Mio. Einwohnern 600'000 unter Waffen.)
Die Menschen im Donbas werden sich entscheiden müssen, ob sie unter ukrainischer Herrschaft leben wollen. Wenn sie das nicht wollen, müssen sie sich stärker engagieren. Oder ist es ihnen egal? In Russland steht es um die Wehrbereitschaft offenbar auch nicht gut. Zwar wählen 90 % Prozent der Russen nationalistische Parteien, aber die wenigsten scheinen willens, Russland im Krieg gegen die NATO zu verteidigen. Haben sie den ernst der Lage nicht erkannt? Oder ist der russische Patriotismus nur heisse Luft? Es muss sogar in den Gefängnissen rekrutiert werden.
Bei 144 Mio. Einwohnern genügten 0.2 % (2 Promille) Freiwillige und das Soll der aktuelle gesuchten 300'000 Reservisten wäre erfüllt. Natürlich ist das eine theoretische Rechnung, aber sie zeigt, wie wenig Leute überhaupt bereit sind für die "russische Identität", den Fortbestand Russlands zu kämpfen.
Es sieht so aus, als müsse sich der Kreml in die Herbst- und Winterpause retten. Im Frühling werden die Karten neu gemischt. Die Russen werden sich was einfallen lassen müssen. Zwar wissen wir nicht, wie die Wehrbereitschaft der Ukrainer aussieht, aber es ist möglich, dass sie 2023 eine Million Mann unter Waffen haben. Dann würde es für Moskau knüppelhart und es bliebe dann nur die Ausweitung der Mobilmachung, die systematische Zerstörung der ukranischen Städte oder taktische Atomwaffen.
Kriege gewinnt man nicht mit fabulieren. Dazu gehört es auch, kritische Fragen zu stellen. Ich bin der Ansicht, in den letzten Monaten haben das im Kreml zu wenige getan.