"Nenne wichtigste Arbeiten und Ideen zur Thema aus dem Bereich Psyhologie, konkret zum Thema wie ein Mensch Grenzen zwischen "wir" und "sie" zieht. Was entscheidet also wie jemand die Entscheidung trifft wer zu uns gehört und wer ein Fremder ist." 1/2
"Hier sind die wichtigsten psychologischen Theorien, Konzepte und Studien zum Thema, wie Menschen die Grenze zwischen „Wir“ (Ingroup) und „Sie“ (Outgroup) ziehen – also die Frage der sozialen Kategorisierung und der Entstehung von „Fremdheit“. Ich liste sie chronologisch und nach Bedeutung auf und nenne jeweils die zentralen Ideen und Autoren.
### 1. Social Identity Theory (SIT) – Henri Tajfel & John Turner (1971–1981) - Wichtigste Theorie überhaupt zu diesem Thema. - Kernidee: Menschen streben nach positivem Selbstwert. Das Selbstwertgefühl hängt nicht nur vom individuellen, sondern auch vom sozialen Identität ab („Ich als Deutscher“, „Ich als Fußballfan“, „Ich als Akademiker“). - Um die eigene Gruppe aufzuwerten, wird automatisch zwischen Ingroup („wir“) und Outgroup („sie“) unterschieden – selbst bei völlig willkürlichen Kriterien.
Berühmtes Experiment: Minimal-Group-Paradigma (Tajfel et al., 1971) → Versuchspersonen wurden zufällig in „Klee“- und „Kandis“-Gruppe eingeteilt (oder nach angeblicher Vorliebe für Künstler Klee oder Kandinsky). Trotz völliger Bedeutungslosigkeit der Einteilung bevorzugten sie sofort die eigene Gruppe bei der Verteilung von Geld und diskriminierten die andere – ohne jeden persönlichen Vorteil.
### 2. Ingroup-Bias / Outgroup-Homogenitäts-Effekt - Menschen nehmen die eigene Gruppe als vielfältig und individuell wahr („Wir sind alle unterschiedlich“) und die Fremdgruppe als einheitlich („Die sind alle gleich“). - Folge: Stereotypisierung und Vorurteile entstehen fast automatisch.
### 3. Terror-Management-Theory (TMT) – Sheldon Solomon, Jeff Greenberg, Tom Pyszczynski (basierend auf Ernest Becker) - Wenn Menschen an den eigenen Tod erinnert werden (Mortality Salience), verstärken sie die Identifikation mit der eigenen Kultur/Gruppe und die Ablehnung von Fremden extrem. - Studien zeigen: Nach Todesgedanken steigt die Abwertung von Ausländern, anderen Religionen usw. massiv an.
### 4. Realistic Conflict Theory – Muzafer Sherif (Robbers-Cave-Experiment, 1954/1961) - Konkurrenz um knappe Ressourcen führt zu Feindschaft zwischen Gruppen. - Im berühmten Ferienlager-Experiment wurden Jungen zufällig in zwei Gruppen eingeteilt → sofort Rivalität, Hass, Gewalt. Erst gemeinsame übergeordnete Ziele (Superordinate Goals) konnten die Feindschaft wieder abbauen.
### 5. Social Categorization Theory (Self-Categorization Theory) – John Turner (Erweiterung der SIT) - Wir kategorisieren uns ständig auf verschiedenen Ebenen: als Individuum – als Mitglied einer Gruppe – als Mensch überhaupt. - Welche Kategorisierung gerade aktiv ist, entscheidet, wer „wir“ und wer „sie“ ist (z. B. im Fußballstadion: Dortmund vs. Schalke; auf der Straße: Deutsche vs. Türken; im Krieg: Menschen vs. „Untermenschen“).
### 6. System Justification Theory – John Jost & Mahzarin Banaji - Menschen neigen dazu, bestehende soziale Hierarchien und Gruppenunterschiede zu rechtfertigen – auch wenn sie selbst benachteiligt sind („Die da oben gehören halt da hin“).
### 7. Entitativity (Wahrgenommene Gruppenhaftigkeit) – Donald Campbell (1958), später weiterentwickelt - Je „entitativer“ (geschlossener, ähnlicher, klar abgegrenzter) eine Gruppe wahrgenommen wird, desto stärker wird sie als „sie“ behandelt. Beispiele: Juden im Nationalsozialismus wurden als extrem entitative Gruppe dargestellt → leichter zu dehumanisieren.
### 8. Dehumanization & Infrahumanization – Jacques-Philippe Leyens, Nick Haslam - Outgroups werden oft subtil oder offen als weniger menschlich wahrgenommen („Tiere“, „Ungeziefer“, „Barbaren“). - Infrahumanisierung: Man gesteht der Fremdgruppe weniger komplexe Emotionen zu (z. B. „Die können nur wütend sein, aber keine echte Trauer empfinden“).
### 9. Evolutionäre Ansätze - Kin Selection & Tribal Instincts (z. B. Robert Kurzban, John Tooby & Leda Cosmides) - Das Gehirn ist evolutionär darauf ausgelegt, sehr schnell Koalitionen zu erkennen („Wer ist mit mir verwandt / wer hilft mir im Kampf?“). Rassistische Kategorisierung kann in Millisekunden ablaufen, lässt sich aber durch andere Hinweisreize (z. B. gemeinsame Trikots) überschreiben.
### 10. Aktuelle neurowissenschaftliche Befunde - Amygdala-Aktivierung bei Gesichtern anderer Ethnien (wenn man selbst wenig Kontakt hat) – Phelps et al., 2000. - fMRT-Studien zeigen: Bei starker Identifikation mit der Ingroup wird Empathie für Outgroup-Mitglieder deutlich reduziert (ähnlich wie bei Objekten).
### Zusammenfassung: Was entscheidet, wer „wir“ und wer „sie“ ist? Die Grenze wird extrem schnell und oft automatisch gezogen durch: - Ähnlichkeit (Aussehen, Sprache, Kleidung, Werte) - Gemeinsame Ziele oder gemeinsame Feinde - Willkürliche Kategorisierung (Minimal-Group-Effekt) - Aktuelle Kontexte (Fußballspiel → andere Grenze als im Krieg) - Bedrohung (Todesangst, Ressourcenkonkurrenz) - Sozialisation und Kultur (gelernt, welche Kategorien wichtig sind) Die wichtigsten Namen, die du dir merken solltest: Henri Tajfel, John Turner, Muzafer Sherif, Marilynn Brewer (Optimal Distinctiveness Theory), Jacques-Philippe Leyens, Nick Haslam. Falls du zu einem dieser Punkte tiefer einsteigen willst (z. B. konkrete Studien oder aktuelle Meta-Analysen), sag einfach Bescheid!
### Das Minimal-Group-Paradigma (MGP) im Detail – die wohl einflussreichste und schockierendste Experimentreihe der Sozialpsychologie des 20. Jahrhunderts
#### Ursprung und Hauptarchitekten - Entwickelt von **Henri Tajfel** und Kollegen an der University of Bristol, 1969–1971 - Veröffentlicht in einer Serie von Artikeln, der wichtigste: Tajfel, H., Billig, M., Bundy, R. P., & Flament, C. (1971). Social categorization and intergroup behaviour. *European Journal of Social Psychology*, 1(2), 149–178.
#### Grundidee. Tajfel wollte zeigen, dass **bloße Kategorisierung** in Gruppen – ohne jeden realistischen Konflikt, ohne Vorgeschichte, ohne persönlichen Nutzen und ohne Face-to-Face-Kontakt – bereits ausreicht, um: 1. Ingroup-Favoritismus („Wir sind besser“) 2. Outgroup-Diskriminierung („Denen geben wir weniger“) zu erzeugen. Das war ein direkter Gegenentwurf zur bis dahin dominanten Realistic-Conflict-Theory von Sherif.
#### Das klassische Experiment (1971) – Ablauf Schritt für
Schritt 1. **Teilnehmer**:
14–15-jährige englische Schüler (64 Jungen in der Hauptstudie)
2. **Scheinaufgabe** (nur Vorwand zur Kategorisierung): Die Jungen sollten die Anzahl von Punkten auf schnell gezeigten Bildern schätzen.
3. **Zufällige Einteilung** (den Jungen wurde aber etwas anderes erzählt): - Gruppe 1: angeblich die „Unterschätzer“ - Gruppe 2: angeblich die „Überschätzer“ (In anderen Varianten: Vorliebe für Klee oder Kandinsky; Würfeln von Über- oder Unterpunkte-Schätzern usw.)
4. **Anonymität**: Die Jungen wussten nie, wer noch in ihrer Gruppe war. Sie saßen einzeln und bekamen nur Codenummern.
5. **Hauptaufgabe**: Geld verteilen mit sogenannten **Tajfel-Matrizen**
Beispiel einer typischen Matrix (Beträge in Pence):
| | Mitglied Nr. 11 (eigene Gruppe) | Mitglied Nr. 27 (fremde Gruppe) | |----------|---------------------------------|---------------------------------| | Wahl 1 | 7 | 1 | | Wahl 2 | 8 | 3 | | Wahl 3 | 9 | 5 | | ... | ... | ... | | Wahl 13 | 19 | 19 | | Wahl 14 | 25 | 23 | Die Jungen mussten immer wieder solche Matrizen ausfüllen – aber nie für sich selbst, immer nur für zwei andere anonyme Personen.
#### Die drei wichtigsten Verteilungsstrategien, die gemessen wurden
1. **Maximum Joint Profit (MJP)** – beide Gruppen zusammen möglichst viel Geld
2. **Maximum Ingroup Profit (MIP)** – die eigene Gruppe soll möglichst viel bekommen (auch wenn die andere dadurch leidet)
3. **Maximum Difference (MD)** – maximale Differenz zugunsten der eigenen Gruppe (selbst wenn das bedeutet, dass die eigene Gruppe absolut weniger bekommt!)
#### Ergebnisse (absolut verblüffend für die damalige Zeit) - Die Jungen wählten **systematisch** die Optionen, die den größten Vorteil der eigenen Gruppe gegenüber der Fremdgruppe erzeugten (Maximum Difference + Fairness zur Ingroup). - Sie opferten sogar eigenes Geld (bzw. das ihrer Gruppe), nur um die andere Gruppe relativ schlechter zu stellen. - Das passierte, obwohl: - die Gruppen vollkommen bedeutungslos waren - niemand wusste, wer in welcher Gruppe war - niemand persönlich etwas davon hatte - es keinen vorherigen Kontakt oder Konflikt gab